25.8.15

Warum bin ich nicht mehr dort und dennoch weiter dabei?

Einige Gedanken zur Ausstellung der Fotografien von Rodrigo Rojas de Negri: Ein Exil ohne Rückkehr



Es ist gut, sich dessen bewusst zu sein, dass die Bedingungen der Vergangenheit in der Zukunft nie genau dieselben sein werden, weder auf dieser noch auf irgendeiner anderen Ebene, und dass wir niemals wieder genau dieselben sein werden.
(Jorge Bucay, Der Weg der Spiritualität. Den Gipfel erreichen und weiter steigen)
  
Anlässlich der Eröffnung einer neuen Ausstellung von Fotografien von Rodrigo Rojas de Negri in Concepción berichtete ein Freund (Favio Moraga) aus studentischen Kampfzeiten auf Facebook, dass er beim Anblick dieser vor fast dreißig Jahren (1986) gemachten Aufnahme plötzlich erkannte: “die Vergangenheit holt dich überraschend wieder ein”.

Ja, manchmal kehrt die Vergangenheit überraschend zu uns zurück, leuchtet blitzartig auf, ohne Vorwarnung. Ob es uns gefällt oder nicht, manchmal lebt die Vergangenheit auf, nimmt Gestalt an, wird Gegenwart, Realität. Das passiert, weil es ein inneres Register aller unserer gelebten Erfahrungen gibt, die in irgendeiner Weise in uns gespeichert sind. Nichts von dem, was wir in der Vergangenheit erlebt haben, geht verloren. Es ist da.

 

Dennoch kann man zugleich sagen, dass diese Vergangenheit nicht mehr da ist. Sie ist gegangen. So sind auch wir nicht mehr, die, die wir damals zum Zeitpunkt der Aufnahme auf der Straße waren. Wir sind weiter gegangen.

Deshalb empfehlen uns spirituelle Strömungen wie der Buddhismus, der Taoismus oder der Sufismus, wir sollten lernen, uns liebevoll und mitfühlend von der Vergangenheit zu verabschieden, weil sie vergangen ist. Im Grunde ist es eine Übung darin, sein Selbst loszulassen, sich leer zu machen vom eigenen Selbst. Wie auch immer das Erlebte gewesen sein mag, die Fakten, die Gefühle, die Gedanken und die besonderen Umstände des Augenblicks, alles das hat sich im Fluss der Zeit unwiederbringlich aufgelöst. Die Vergangen-heit ist endgültig Vergangenheit. Uns bleibt alleine die Gegenwart, das Hier und das Jetzt.

Aber, obwohl es paradox ist, suggerieren dieselben geistigen Strömungen, dass auf einer bestimmten spirituellen, einer mystischen Ebene wir, die Jungen von damals, die in den achtziger Jahren im Kampf für die Freiheit auf die Straße gingen, weiterhin da sind. Wie in die Zeit eingefroren. Vielleicht behaupten deshalb auch theoretische Physiker, die sich auf dem schmalen Grat zwischen Physik und Mystik bewegen, dass es eine Synchronizität zwichen Zeit und Raum gibt, eine parallele Realität, in der jeder Augenblick auf irgendeine Weise noch vorhanden ist als schwebte er im unendlichen Raum in der Fortbewegung eines ins endlose Dunkel projiziertes Lichtteilchen.

Vielleicht ist dieses auch das unerklärliche Geheimnis einiger Fotografien aus der Vergangenheit. Sie haben “diesen Augenblick” eingefangen und eingefroren. Diesen Moment der Menschheitsgeschichte, der, obwohl vergangen, wie schwebend in diesem unsichtbaren und unendlichen Raum überlebt. Es ist ein Raum ohne Licht, in den die Fotografie Licht und Sichtbarkeit bringt.

Der Fotograf mit seiner Technik und seiner Präsenz “bannt diesen Moment” auf unentrinnbare Weise und fixiert ihn, damit wir ihn weiterhin sehen und teilen können in dieser Welt der Formen, die wir Realität nennen.

Mit anderen Worten: der Fotograf ist ein Schöpfer, seine Schöpfung ist das Bild.

Er erschafft eine gesonderte Realität mit eigener Wirklichkeit. Eine Schöpfung voller Licht.

Wie es auch sei. Manchmal denke und fühle ich, dass ich dort noch nicht angekommen bin.

Doch beim erneuten Anblick des Fotos weiß ich, dass ich weiter dort bin und der Fotograf ebenfalls.

Ist das eine andere Realität? Mit ihrem eigenen Licht, das niemand löschen kann!

 Anmerkung: Ich habe diesen Text im Andenken an Rodrigo Rojas de Negri geschrieben in der Hoffnung, seine Mutter, die all die Jahre unter dem Verlust ihres geliebten,  jungen und sympathischen Sohnes so sehr gelitten hat, zu stärken und zu ermutigen.

Der Fotograf Rodrigo Rojas de Negri starb im Juli 1986, wenige Tage nachdem er diese Aufnahme gemacht hat. Sein Fall verursachte in Chile einen gesellschaftlichen und politischen Schock, der die Gesellschaft endgültig gegen die Militärdiktatur von Pinochet einte.

Nähere Informationen zu diesem Fall: Hier


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